Nr.12 Verrat
Text. Jonas Stetter Bilder. Bertha Sangines
Häufig gibt es nur einen kleinen Unterschied zwischen einem Brauch und dem Verrat an den Menschen, die ihn ausüben. Bereits vor einigen Wochen habe ich über die voreingenommene, positivere Haltung geschrieben, die wir manchmal auf unreflektierte Weise gegenüber Dingen einnehmen, nur weil wir ihnen über längere Zeit ausgesetzt sind.
Man könnte die Begriffe aber auch gegenteilig auslegen: Die Verräterin ist die, welche den Brauch nicht fortsetzt. Einer der stärksten menschlichen Triebe ist die Einhaltung der (selbst-)auferlegten Werte von sozialen Gruppen, zu denen wir uns zugehörig fühlen möchten. Viele unserer unangenehmeren Gefühle wie Scham, ein schlechtes Gewissen und das krampfhafte Bedürfnis, unseren Platz um Anerkennung in einer Gemeinschaft verteidigen zu müssen, gehen vermutlich darauf zurück. Wer sich nicht regelmässig eine Nacht im Bett wälzend fragt, wieso er in der gestrigen Auseinandersetzung keine passendere Art fand, sich auszudrücken oder nicht an eine frühe Erinnerung aus der Primarschule mit beschämender Intensität zurückdenken kann, in der er sich beispielsweise in einem weissen Malkittel fühlte wie James Bond (ein, wirklich, rein hypothetisches Beispiel), ist ein Soziopath.
Der Bruch mit Konventionen mag also ein Verrat an der sozialen Kohäsion sein, ein Verrat, der laut WEF zu den grössten Risiken unserer modernen Gesellschaften gehört. Mein Eindruck ist, dass wir Traditionen – häufig aus guten Gründen – abgestreift haben wie eine zu eng gewordene Haut, ohne diese durch eine Alternative zu ersetzen, in die wir hineinwachsen können. Völkische Bräuche, mit denen wir uns nicht mehr identifizieren, hinter uns und die Hallen der Kirche am Sonntag leer zu lassen, mag eine gute Idee gewesen sein. Die entstandene Lücke ungefüllt zu lassen, ist ein Versäumnis.
Die wenigen Ausnahmen, die uns bleiben, sind Ereignisse wie das Oktoberfest oder Black Friday. Konsum scheint die letzte Gemeinsamkeit zu sein, auf die wir uns alle relativ konfliktfrei berufen können. Das Leben ist reicher an Werten, und es ist reicher mit Traditionen. Andere Kulturen kennenzulernen wäre nicht so spannend, wenn es Volksfeste und idiosynkratische Bräuche nicht gäbe.
Es ist eine Herausforderung, neue Traditionen zu etablieren. Man braucht Kreativität, Energie und Repetition über längere Zeiträume dazu.
Ein Versuch, im kleinen Rahmen eine neue Tradition zu starten, ist dieser Newsletter. In (mehr oder weniger) regelmässigen Abständen nehmen Bertha und ich uns Zeit, um ein Thema zu behandeln. Dabei gilt grundsätzlich, wie bei vielen Traditionen: Quantität geht über Qualität. Das Ziel war nie, perfekte Texte und Bilder zu erstellen, sondern eben Skizzen anzufertigen. Die Praxis liegt im Vordergrund, das Produkt sollte sekundär sein. Gleichzeitig fällt es mir schwer, Texte zu publizieren, mit denen ich nicht zufrieden bin. Deshalb hat sich in den letzten Wochen die Häufigkeit, in der wir veröffentlichen, verringert.
Bertha und ich befinden uns in einer Zeit von weitgreifenden Veränderungen. Ich stelle mir momentan viele Fragen:
Was sind die Grenzen meiner Interessen? Wenn Kunst einen immer kleineren Teil meiner Zeit einnimmt, verschwinde ich dann? Ist es ein menschliches Schicksal, von unseren Vorbildern enttäuscht zu werden? Reicht die Suche nach Glück als Lebenszweck, oder ist es ein Konzept, dass grundlegend vom Zeithorizont abhängt? Wieso oszilliert Familie zwischen schön und schwierig? Hilft uns Ironie, Spannungsverhältnisse auszuhalten? Helfen uns Einschränkungen, uns zu entfalten? Wird man seinen ersten Eindruck je los? Welche Teile von uns bleiben erhalten, wenn wir uns verändern – bin ich weder Fluss noch Vogel? Worin lohnt es sich (nicht mehr), Energie zu investieren?
“Sonntag-Skizze” ist für mich zumindest eine Teilantwort auf viele dieser Fragen. In den nächsten Monaten möchte ich in diesem Gefäss weiterhin konkrete Teilantworten zu einigen der obenstehenden Themen erforschen.
Weiterhin werde ich den Brauch der Sonntag-Skizze mit mehr oder weniger Regelmässigkeit beherzigen. Ich möchte nicht zum Verräter werden.