Nr.13 unter scheinesgleichen

16. April 2023 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

Manche Bücher finden einen im richtigen Moment. Manchmal muss Zeit vergehen, bevor sich der Zugang erschliesst. Dann wieder, nach einem gewissen Alter, entzieht sich das Werk zumindest teilweise dem Verständnis der Lesenden.

Hermann Hesses Unterm Rad hat mich an einem Bahnhof gefunden, wo ich eine Stunde totwarten musste. Der Protagonist Hans Giebenrath ist der beste Schüler seines Jahrgangs. Er lernt gerne und bildet sich etwas auf seine sprachlichen Fähigkeiten ein. Gleichzeitig geniesst er es, sich um seine Kaninchen zu kümmern, im Wald zu spazieren, am Fluss zu angeln oder in ihm zu schwimmen.Bald ist es ihm aber nicht mehr möglich, seine «Work-Life Balance» aufrechtzuerhalten:

«Die Arbeit stand nun wieder in erfreulichster Blüte, und wenn Hans je und je doch wieder eine Stunde angelte oder spazierenlief, hatte er ein schlechtes Gewissen…

Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt.

Wie schön hatte sich der kleine Giebenrath entwickelt! Das Strolchen und Spielen hatte er fast von selber abgelegt, das dumme Lachen in den Lektionen kam bei ihm längst nimmer vor, auch die Gärtnerei, das Kaninchenhalten und das leidige Angeln hatte er sich abgewöhnen lassen.»


 Diese vor Ironie triefenden Zeilen erklären, wie das Umfeld von Hans Giebenrath seine schulischen Fähigkeiten fördert. In einer anderen Skizze habe ich ausgeführt, dass die Formung von Personen als nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft in meinen
Augen nicht nur falsch ist. Hans scheitert daran, einen Ausgleich zwischen Arbeit und Genuss in seinem Leben zu finden – und schlussendlich daran, den eigenen ambitionierten Vorstellungen eines erfüllten Lebens gerecht zu werden.

Unterm Rad ist nicht Hesses dichterisch interessantestes Buch, und bestimmt nicht das vielschichtigste. Unterm Rad ist das richtige Buch für jemanden, der gerne vergisst, sich um ein Gleichgewicht im eigenen Leben zu kümmern, zu Gunsten von Ansprüchen seiner Umwelt, welche ehrlicherweise die eigenen sind. Es ist eine Erinnerung, dass die Tore der Mathematik und des Lateins sich zu neuen Welten öffnen, einen Menschen aber auch Ich wegschliessen können.

Quellen:
Hermann Hesse – Unterm Rad
https://www.goodreads.com/book/show/137081.Unterm_Rad?
from_search=true&from_srp=true&qid=qrjGEf1s3C&rank=1

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