Nr.14 Para dos

1.Oktober 2023 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

“[N]ur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum un-geeignet, das Unerfassliche auszudrücken.”-C. G. Jung

«Zu allem, was ihr ein- oder auffällt, gibt es immer auch ein Gegenteil. Bei ge-nauerer Betrachtung zerbröseln alle Gültigkeiten, und jede Idee hebt sich selber auf. Ihr skeptischer Verstand findet überall Widersprüche, Absurditä-ten, logische Fehler.»
Juli Zeh, Über Menschen

Als Mensch bin ich häufig nicht sehr konsequent. Es geschieht, dass ich zu einem Thema keine Meinung habe. Aber immer wieder habe ich auch zwei sich widersprechende Meinungen zum selben Thema.

Bei vielen der kontrovers diskutierten politischen Themen fällt es mir schwer, mich für eine Seite zu entscheiden. Ich glaube, dass man den Künstler von seiner Kunst trennen sollte und räume gleichzeitig ein, dass das nicht immer möglich ist. Ich bin kein Fan von Religion und gleichzeitig bereitet mir das Verschwinden der Kirche und ihrer Traditionen Sorge. Flüge und Geflügelkonsum finde ich furchtbar, aber ich spüre Hunger. Und Neugier. Vielen Positionen kann ich kritisch gegenüberstehen – und ihnen gleichzeitig viel abgewinnen.

Orwell bezeichnet in 1984 die Kunst, gleichzeitig zwei gegenteilige Ansichten als Wahrheiten zu akzeptieren, «doublethink». In seinem Buch wird kritisiert, dass man sich je nach Situation völlig an die vorherrschende Denkweise anpasst. Während ich damit grundsätzlich einverstanden bin, schliesse ich mich auch Jung an, der behauptet, dass Paradoxe etwas fundamental Menschliches beschreiben.

«There is no price for happiness in life.»

Vor einiger Zeit hat eine Freundin meiner Mutter diesen Satz von sich gegeben.

Einerseits ist es eine Floskel, dass es das Glück nicht zu kaufen gibt. Schon die Beatles und Jordan Belfort wussten das. Ein Preis kann auf Zufriedenheit also nicht gesetzt werden.

Sie meinte den Satz aber anders. Sie sprach davon, dass sie sich viele Jahre lang vor ihrem eigenen Glück fürchtete, wegen ihrer Überzeugung, dass man für die eigene Zufriedenheit immer teuer bezahle. Sie habe allerdings mittlerweile realisiert, dass man für das Glück nicht bezahlen muss. Das Glück besitzt keinen Preis.

Das Paradoxe des Lebens liegt in diesem Verhältnis. Vieles vom wirklich Wichtigen kann man, mit Hartmut Rosa gesprochen, nicht «verfügbar» machen. Man kann es sich nicht erstehen, man muss dafür aber auch nichts bezahlen. Wenn wir versuchen, Gegensätzliches mit Eindeutigem aufzulösen, (be)greifbar zu machen, verlieren wir etwas vom fundamental Menschlichen.

Oder wie Juli Zeh in ihrem COVID-Roman über Menschen schreibt:
«Es geht nicht darum, Widersprüche aufzuklären», sagt Steffen, «sondern sie auszuhalten.»

Entwurf, unendlicher Spiegel. Pastell auf Papier

 

Quellen:

George Orwell – 1984

https://www.goodreads.com/book/show/61439040-1984?from_search=true&from_srp=true&qid=faoUgr3IHD&rank=1

 The Beatles – Can’t Buy Me Love

https://www.youtube.com/watch?v=srwxJUXPHvE&ab_channel=TheBeatlesVEVO

 Martin Scorsese – The Wolf of Wall Street

https://www.imdb.com/title/tt0993846/?ref_=nv_sr_srsg_0

Hartmut Rosa – Unverfügbarkeit

https://www.goodreads.com/book/show/43240561-unverf-gbarkeit?from_search=true&from_srp=true&qid=kuvVYy3N7f&rank=1

Juli Zeh – Über Menschen

https://www.goodreads.com/book/show/57306699-ber-menschen

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Short thoughts written in prose. Accompanied by illustrations. Every other Sunday.

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