Nr.17 Povere Creature!
Text. Jonas Stetter / Bild. Bertha S.
17.März 2024
«[T]he mystery of life isn’t a problem to solve, but a reality to experience […] A process cannot be understood by stopping it. Understanding must move with the flow of the process, must join it and flow with it.»
Frank Herbert, Dune
Das Filmerlebnis, welches mich in den letzten zwölf Monaten am meisten gerüttelt hat, war Yorgos Lanthimos’ Poor Creatures. Die Handlung in einen Satz zu fassen, ist unmöglich, aber ich versuche es dennoch: Der Körper einer Toten wird, nachdem das Hirn ihres ungeborenen Kindes in ihren Schädel implantiert wurde, reanimiert, woraufhin die Auferstandene zu sprechen, gehen und denken lernt, im Kontext einer Gesellschaft, die die Aufwachsende als Erwachsene sieht.
Der Film von Yorgos Lanthimos behandelt unter anderem das unerklärliche Phänomen von Bewusstsein. Der Soundtrack, der klingt wie Instrumente, die langsam gestimmt werden, weist auf den sich entwickelnden, sich anpassenden Charakter der Hauptfigur Bella hin – von einer ungestümen, unkontrollierten Natur bis zur beherrschten und autonomen Leserin. Der Beginn des Filmes in Schwarzweiss zeigt Einblicke der Kindheit, häufig auffällig ausgeschnitten. Gemeinsam mit den Klängen schafft es Lanthimos, etwas davon einzufangen, was das Bewusstsein als Phänomen so speziell macht, dass es unmöglich ist, diese Erfahrungen und Erinnerungen (besonders mit ihrer späteren Färbung) auf angemessene Weise wiederzuerlangen.
So ist auch bei Bellas Besuchen neuer Orte die Natur dieser Umwelten geprägt von grellen Farben und futuristisch wirkenden Geräten.
Erst bei der zweiten Sichtung habe ich verstanden, dass Lanthimos dadurch die Perzeption eines Kindes darstellen könnte, wie es zum ersten Mal eine neue Stadt wahrnimmt oder den Himmel über dem Ozean betrachtet.
Diese Frankensteinkindfrau fällt aus jeder gesellschaftlicher Norm. Sie kennt die arbiträren kulturellen Formen nicht, mit welchen wir unsere Zugehörigkeit zur Allgemeinheit ausdrücken. Tischmanieren hat sie keine, ihre Sprache ist idiosynkratisch und sie empfindet keine Scham.
Damit ist die Figur nicht nur spannend zu betrachten; sie regt auch zur Reflexion über die ebenso idiosynkratischen Normen an. Dies wird in einer besonders lustigen Szene auf den Punkt gebracht: In einem vornehmen Festsaal beginnt Bella völlig verrückt und ausgelassen zur Musik zu tanzen, die plötzlich in ihr Bewusstsein dringt. Ihr Begleiter, einer von vielen Männern im Film, die ihre Wildheit zähmen will, greift daraufhin immer wieder nach ihren Armen und Hüften, um sie vor einer vermeintlichen öffentlichen Blossstellung zu schützen und in etablierte Tanzmuster zu zwängen. Dabei fällt beim Zuschauen plötzlich auf, dass die gesellschaftlich etablierten Tanzmuster nicht weniger verrückt und zufällig gewählt sind wie die wilde und improvisierte Tanzkunst von Bella.
Das ist die für mich grösste Stärke des Filmes: Dadurch, dass der Film eine Erwachsene dabei zeigt, ihr Bewusstsein, die Welt um sie herum, neu kennenzulernen – und dabei ernster genommen wird als Kinder (worüber ich auch schon im Zusammenhang mit dem Film C’Mon C’Mon geschrieben habe), entblösst sie gesellschaftliche Konventionen, welche keine logische Basis haben. Nach dem Kinobesuch bleibt die Frage: Wo hältst du dich ohne besondere Überzeugung an gesellschaftliche Konventionen, die dein Wesen und deine Lebensfreude einschränken?
Quellen:
Frank Herbert – Dune
https://www.goodreads.com/book/show/44767458-dune
Yorgos Lanthimos – Poor Things
https://www.imdb.com/title/tt14230458/
Was sind Ihre Gedanken zu diesem ThemaBeteiligen Sie sich an der Diskussion