Nr.10 Nummer Zehn
Ähnlich verhält es sich für mich mit dem Alter. Wenn ich etwas über eine Person wie C.G. Jung (1875-1961) lese, stelle ich oft Überlegungen zum Alter dieser Person bei gewissen Ereignissen an.
Ein Beispiel: Zu Jungs Geburt war der deutsche Nationalstaat gerade einmal vier Jahre alt. Darwins einflussreiches Werk zum Ursprung der Arten wurde rund fünfzehn Jahre davor publiziert und Alexander von Humboldt war ebenso lange tot. In seinen Zwanzigern war das üblichste Fortbewegungsmittel noch das Pferd und Automobile eine Sonderheit (bei seinem Tod gab es in der Schweiz bereits eine halbe Million PKWs). Den Untergang der Titanic und die russische Revolution hat er mit rund vierzig Jahren verfolgt, die Wahl Hitlers mit fast sechzig Jahren.
In seinen letzten Lebensjahren wurde «Homo Faber» publiziert, plötzlich sahen alle Innenräume ganz anders aus, The Bridge on the River Kwai gewann den Oskar für den besten Film, die Leute sahen nun Romy Schneider und hörten Elvis Presley. Rein theoretisch hätte Jung in seinem Leben sowohl Vincent Van Gogh als auch Otto von Bismarck, Virginia Woolf und Meryl Streep die Hand schütteln können.
Über die Wichtigkeit von Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten für ein dreidimensionales Verständnis von Geschichte schrieb Tim Urban vor wenigen Jahren einen lesenswerten Blogeintrag (siehe «Quellen»).
Da dies unser zehnter Eintrag ist, haben wir beschlossen, ihn den Zahlen und dem Alter zu widmen. Ich habe eine Reihe an (leider nicht zehn) Personen zum jeweiligen Jahrzehnt befragt, in dem sie sich lebenszeitlich gerade befinden. Einige der Fragen, die ich gestellt habe, sind:
Was hat dich an diesem Jahrzehnt im Vergleich zum vorherigen überrascht? Welche Schwierigkeiten hast du (nicht mehr) verglichen zu davor? Worauf darf man sich freuen, wenn man noch eine Etage tiefer lebt? Stimmt es für dich, dass die Zeit mit jedem verstrichenen Jahr schneller vergeht?
Konstanze, 18
Ich bin weniger selbstsicher geworden. Vor einigen Jahren noch hatte ich keinen Zugriff auf soziale Medien. Diese für mich neue Welt ist ziemlich toxisch und ich habe manchmal Mühe zu unterscheiden, was echt ist und was nicht.
Es ist schön, weniger von meinen Eltern abhängig zu sein. Sie hatten früher nicht immer Zeit, mir beispielsweise etwas zu essen für die Schule einzupacken oder mich zu einem Fest zu fahren. Ein eigenes Auto und mehr Fähigkeiten zu haben, bedeutet Freiheit für mich. Trotzdem denke ich, dass die Jugendlichen in Deutschland verglichen mit Mexiko mehr Freiheiten haben. Dort gibt es weniger Kriminalität und man kann sich ohne Sorge mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen. Auf der anderen Seite muss ich heute mehr Verantwortung übernehmen. Als Kind war ich glücklicher, da ich für fast nichts verantwortlich war.
Die Beziehungen zu meinen Freunden sind viel wichtiger geworden. Mit Freunden kann man authentisch sein, weil sie für einen da sind und einem nicht sagen können, was man tun und lassen soll. Sie bringen einem Unterstützung und Verständnis entgegen, was bei Eltern nicht immer so ist.
Dass die Zeit immer schneller vergeht, stimmt total.
Laura, 29
Gleichzeitig habe ich mehr Ängste als vor zehn Jahren. Mit Geld umzugehen ist nicht einfach. Mir ist bewusst geworden, wie unterschiedlich die Realitäten sind, in denen wir leben. Manchmal scheint mir, ein falscher Schritt und du bist in einer anderen Realität. Wichtig geworden ist für mich, nicht mehr so stark darauf zu achten, was andere Leute denken und sagen.
Die Zeit vergeht mit jedem Jahr schneller. Dadurch fühlt sich Reue doppelt so schlimm an. Die Zeit mit den Personen, die einem nahestehen, muss man schätzen, weil immer weniger davon bleibt.
Die Arbeit und Liebesbeziehungen bleiben aber kompliziert.
Ich denke aber auch, dass man die Energie, die man hat, ausnutzen soll und alles Mögliche ausprobieren muss, um zu sehen, was man wirklich mag. Im Ausland zu leben hat mir gezeigt, was ich an Mexiko liebe und worauf ich stolz sein kann. Im Arbeitskontext hat es mich vorwärts gebracht, selbstsicherer zu wirken, als ich es bin. Erst einmal «ja» sagen und dann sehen, wie man es schafft. Fast nichts hat wirklich schlimme negative Konsequenzen. Sich weniger Sorgen um die Dinge zu machen, wäre schön.
Aurelio, 35
Mir fällt auf, dass wir immer ungeduldiger werden – auf Netflix kann man beispielsweise jedes Intro einer Serie per Mausklick überspringen. Wir haben das Interesse an Belohnungen, die verzögert eintreten, mehrheitlich verloren.
Früher fand ich es viel schwieriger, eine Work-Life-Balance zu finden. Es ist weiterhin eine Herausforderung für mich, aber meine Prioritäten haben sich verändert.
Die Erfahrung, welche mit den Jahren kommt, hilft einem beim Lösen von Problemen. Diese Erfahrung mit der jüngeren Generation zu teilen und sich dann davon überraschen zu lassen, wie diese jüngere Generation Probleme löst, finde ich spannend.
Sozial gesehen bin ich selektiver geworden, was neue Freundschaften angeht. Die Freundschaften, die man pflegt, bleiben einem aber erhalten.
Thomas, 59
Da meine Kinder nun erwachsen sind, habe ich mehr Freiheiten als noch vor zehn Jahren. Ohne Kinder muss man sich weniger Gedanken um Geld machen und man kann sich leisten, was man haben möchte. Ich fühle mich auch unternehmerisch freier, weil ich weniger Verantwortung für andere tragen muss.
Mich beschäftigt, dass im letzten Jahrzehnt die Stabilität in Europa zu Ende gegangen ist. Wir haben ein stärkeres Auseinanderklaffen der Meinungen zwischen links und rechts, reich und arm, links und arm.
Es ist spürbar, dass meine Kräfte langsam nachlassen – sportlich und beruflich bin ich nicht mehr gleich belastbar. Ich habe aber auch das Gefühl, dass ich gewisse Dinge besser verstehe und nachvollziehbarer auf den Punkt bringen kann. Die Balance zwischen Arbeitszeit und Zeit für mich ist nach wie vor schwierig zu finden. Die Gleichaltrigen sprechen häufig von Pension, aber ich habe den Wunsch, noch viel zu bewegen. Trotzdem stellt sich mir manchmal die Frage: Habe ich einen Jugendwahn, wenn ich beispielsweise eine neue Firma gründe, oder einfach Spass an meiner Tätigkeit?
Je mehr Routine man in seinem Leben hat, desto schneller vergeht die Zeit. Je älter man ist, desto seltener muss, will und kann man diese Routine durchbrechen.
Beate, 74
Es überrascht mich, dass mir das Älterwerden weniger ausmacht, dass ich mich annehmen kann, wie ich bin – mit meinen Falten und meinem Bäuchlein. Ich lebe bewusster im Hier und Jetzt, kann Arbeit liegen lassen, um spontan etwas zu unternehmen. Ich habe zum Beispiel vor kurzem eine Sendung über den Voralpenexpress von St. Gallen nach Luzern gesehen und zwei Tage später diese Reise gemacht. Ich fühle mich besser als vor 10 Jahren, ich habe keine Rücken- oder Knieprobleme.
Robert, 88
Die Aussage eines Bekannten von mir stimmt: Siebzig zu werden ändert sehr wenig, ab achtzig spürt man immer mehr das Alter. Praktisch alles geht noch, aber zusehends mit mehr Mühe.
Vieles nehme ich mit mehr Gelassenheit, ich rege mich viel weniger auf als früher. Körperlich spürt man die Veränderungen deutlich: Ich unternehme nur noch Wanderungen mit Auf- und Abstieg von maximal 500 Höhenmeter und Dauer von maximal vier Stunden. Im Wasser zum Schwimmen gilt das gleiche. Das Radfahren habe ich komplett aufgegeben. Ich habe auch deutlich weniger, aber immer noch Sex. Besonders wenn ich müde bin, nimmt die Gedächtnisfähigkeit spürbar ab.
Jüngere Menschen können sich freuen auf alles, was einem noch bleibt, insbesondere: Auf das Zusammensein mit Verwandten und Freunden. Wenn die junge Generation gelegentlich Zeit für Dich hat. An der guten Gesundheit, soweit sie noch bleibt. An der Natur. An der Kunst, der Musik, am Tanzen – gestern Abend endlich wieder einmal eine halbe Stunde Rock und Walzer ohne Unterbruch. An den Erinnerungen. An altersgerechter Gymnastik. Dass man immer noch um einen Ratschlag oder Hilfe gefragt wird – und diese oft geben kann.
Die Zeit, das stimmt, vergeht mit jedem Jahr schneller – und wie!
Besonders auffallend finde ich, wie alle Befragten mit der Aussage einverstanden sind, dass die Zeit mit zunehmendem Alter in den Fingern zerrinnt. Dazu zwei Gedanken; ein deprimierender und ein hoffentlich erbaulicher.
Zuerst der deprimierende: Wenn die gefühlte Zeit immer schneller vergeht und dieses Gefühl ständig zunimmt, ist die nummerische zeitliche Darstellung eines gelebten Lebens für unser Empfinden ungenau. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Wahrnehmung das ist, was unser Leben ausmacht, bin ich also mit vierzig nicht etwa in der gerundeten Hälfte meines gefühlten Lebens angelangt, sondern schon weit darüber. An zu lebenden Jahren bleiben mir vielleicht tatsächlich weitere vierzig Jahre, rund zweitausend Wochen. Aber die erlebte Zeit wird sich erheblich kürzer anfühlen als die ersten zweitausend Wochen, die Teil meiner Erfahrungen sind.
Gleichzeitig heisst das, dass wir nicht darauf zu warten brauchen, dass der Kilometerzähler von 49’999 auf 50’000 springt. Wahrscheinlich hat er es sowieso bereits getan und den Moment haben wir verpasst. Wir können uns also getrost auf das konzentrieren, was wir tun möchten – und nicht zu lange damit warten.
Quellen:
Tim Urban – Horizontal History
https://waitbutwhy.com/2016/01/horizontal-history.html