Nr.6 Kultur-Millionäre und die Armut von Worten

19. Juni 2022 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

“El mexicano es millonario de cultura.”

Diesen Satz hat Bertha vor einiger Zeit geäussert, während wir in Zimapán eine Unterrichtung in der örtlichen Kultur von einem ehemaligen landesweiten Vertreter und Vermittler indigener Kultur und Leiter eines Zentrums für Öko-Tourismus erhielten.

Mexiko ist ein Land der Extreme. Das Essen ist das vielleicht leckerste der Welt, aber es schädigt den Körper. Die Gefahren im Land sind unberechenbarer, aber viele Freiheiten ungebändigt. Und wie Bertha sagt, ist jeder Aspekt des Lebenskontexts tief geprägt von dieser schwer in Worte zu fassenden, eigenen, markanten Kultur.

Kürzlich habe ich eine Ausstellung von Rafael Cauduro besucht, einem mexikanischen Künstler. Einige der Stücke waren für meinen Geschmack zu sehr durch die Achtziger Jahre geprägt. Aber in keinem Fall war die Originalität verkennbar. Cauduro versteht es, in seiner Kunst Konventionalität mit Regelbrüchen zu verknüpfen, was zu einem intrigierenden Spannungsverhältnis führt.

Besonders geblieben sind mir seine bemalten Archivkästen aus Metall, auf denen Personen abgebildet sind oder aus deren Schlitze Menschenaugen mit verschiedenen Ausdrücken starren. Dieses Motiv des archivierten Menschen nimmt Cauduro in verschiedenen Stücken auf. Was mich daran bewegt hat, ist, dass es nicht viel Unpersönlicheres gibt als einen metallenen Archivkasten - und gleichzeitig kaum einen Ort, an dem Persönlichereres aufbewahrt wird.

Diese Ambivalenz zwischen Repräsentiertem und Repräsentant wird in Peter Stamms Buch Das Archiv der Gefühle (ein Buch, das meine Schwester als «wie für den Deutschunterricht geschrieben» bezeichnet hat) ebenfalls thematisiert:

«Hundert Meter flussaufwärts, wo das Wasser über das Wehr stürzt, weicht das gurgelnde Geräusch einem lauten, vollen Rauschen. Das Wort Rauschen trifft es nicht, es ist viel zu ungenau in seinen vielen Bedeutungen und Anwendungen, alles rauscht, der Fluss, der Regen, der Wind. Der Äther rauscht. Ich muss eine Akte zum Thema Geräusche des Wassers anlegen, ich frage mich, wo in der Systematik sie hingehört, Natur, Physik, vielleicht sogar Musik? Geräusche, Gerüche, Lichtphänomene, Farben, so vieles fehlt noch in meinem Archiv, so viel Unbeschriebenes, Unerfasstes, Unerfassbares.»

Bezeichnend ist, dass das Subjekt in Stamms Text die Hauptfigur ist, welche subjektive Eindrücke ablegt. Sie versucht, sich ihrer Umwelt über die Sprache zu bemächtigen. Aber die Sprache und die Welt entziehen sich, das Beschriebene und das Beschreibende stehen in einem ungenauen, unauflösbaren Verhältnis.

In Cauduros Werk ist das Subjekt eher Opfer der Archivierungsprozesse. In einem Land, in dem die Bürokratie quälend, aber bei weitem nicht so quälend wie die herrschende Gewalt ist, welche zu einem erheblichen Teil dieser Prozesse führt, macht das Sinn. Mexiko ist ein Land der Extreme. Die Mexikanerin mag eine Millionärin der Kultur sein, aber sie bezahlt einen hohen Preis für diesen Reichtum.

Quellen:

Peter Stamm – Das Archiv der Gefühle

https://www.goodreads.com/book/show/58756154-das-archiv-der-gef-hle?ac=1&from_search=true&qid=7Xrssktpfh&rank=1

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