Nr.7 Alameda

7.August 2022 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

Die Alameda Central in Mexiko-Stadt ist ein spezieller Ort. An Wochenenden spazieren hier im Zentrum der Stadt tausende von Bewohnern über den hellen Stein, der von grünen Pappeln umgeben ist.

Mexikanerinnen aus dem ganzen Land, die in dieser bevölkerungsreichsten Stadt ihr Zuhause gefunden haben, sehen musizierenden, rollschuhfahrenden und kauenden Gestalten bei ihrem allwochenendlichen Treiben zu.

Es ist ein Begegnungsort für Bettler, die am Boden kauernd ihre Hände offen halten oder mit ihnen im Abfall wühlen, für Akademikerinnen, welche sich auf dem Weg zu einer Ausstellung im Franz-Mayer-Museum befinden oder das Museo Memoria y Tolerancia besuchen möchten, für Jugendliche, die sich mit Freunden im Park verabredet haben, für Touristinnen, die gerade aus der Gringotts-ähnlichen alten Post oder aus dem im neoklassizistischen Stil gebauten Bellas Artes mit dem regenbogenfarbenen Dach nach einem Besuch des folkloristischen Balletts ins Sonnenlicht stolpern.Wenn ich mit Leuten, die Mexiko besuchen, zur Alameda gehe, frequentieren wir ohne Ausnahme ein weiteres Museum, das sich am entgegengesetzten Ende der Alameda befindet, nahe dem unfertigen Regierungsgebäude, das nach der Revolution 1910 zum eigenartigen und imposanten Monumento a la Revolución wurde. Es ist ein einziger Raum des Museums, den ich den Gästen zeigen möchte. Auf einer Wand, vier Meter hoch, fünfzehn Meter breit, befindet sich ein grosses Gemälde von Diego Rivera.

Der Name der Wandmalerei aus dem Jahr 1947 ist «Sueño de una tarde dominical en la Alameda Central». Am Ende der Alameda findet man also ein Bild der Alameda. Das ist an und für sich schon etwas surreal.

Es handelt sich bei dem Gemälde um einen Traum, wie der Titel verrät. Über einhundert Personen sind darauf sichtbar, die sich zwischen den Pappeln tummeln, streiten, verbrüdern, beschimpfen, bekämpfen quälen, unterstützen. Zwischen unzähligen anonymen Figuren aus unterschiedlichsten Sozialschichten sind viele Persönlichkeiten aus entscheidenden Epochen für Mexikos Geschichte zu sehen, vom Habsburger Maximilian I. über den Vater der Nation Benito Juárez bis hin zu Diego Rivera selbst, der sich in die Mitte des Bildes als Junge dargestellt hat. Es bleibt bei der Betrachtung unklar, ob es sich bei dem Traum Mexikos um eine Utopie oder einen Albtraum handelt. Wie es bei Träumen so oft der Fall ist, scheinen Elemente von beidem in einem absurden Zusammenspiel zueinander zu finden.

Natürlich suggeriert nichts an der Alameda selbst eine unmögliche, traumhafte Gleichzeitigkeit. Es ist ein weiteres Wort im Titel der Wandmalerei zeigt aber eine Verbindung zu heute auf: «tarde dominical». Es handelt sich um den Traum eines Sonntagnachmittags. Wenn man heute an einem Wochenende über diesen Begegnungsort schreitet, spürt man dieselbe Stimmung lebendig im Hier und Jetzt, die Rivera im Dort und Nie verewigt hat.



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Short thoughts written in prose. Accompanied by illustrations. Every other Sunday.

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