Nr.5 Ideen und Leere

5. Juni 2022 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

Platons Ideenlehre habe ich zwangsweise im Rahmen meines eigenen Erkenntnistheorieunterrichts kennengelernt. Sie entspricht der Vorstellung, dass sich alle Begriffe in ihrer Vollkommenheit in einem hypothetischen Raum befinden.

Ein real existierender Stuhl ist immer die reale Repräsentation des idealen Begriffs - darauf verweist unter anderem Platons berühmtes Höhlengleichnis.

Für die Mathematik bedeutet dies, dass eine reale Version eines Kreises nie ganz dem idealen Ideal der Form entspricht. Es ist nicht möglich, eine geometrische Figur ohne Makel zu zeichnen. Jedes Quadrat, das wir versuchen, auf einem Papier darzustellen, wird selbst bei genauester Arbeit zumindest winzige Abweichungen von der perfekten Idee aufweisen. Das Gleiche gilt für Winkel. Wie oft benutzen wir nicht einen Punkt, um einen mehr schlecht als recht verlaufenden Winkel auf 90 Grad zu runden.

So viel zur Grundlage.

Unerwartet war für mich, dass ich in Stephen Kings Buch Über das Schreiben auf einen ähnlichen Ansatz für Ideen stieß. Darin erklärt King, dass er der festen Überzeugung ist, dass Schriftsteller sich keine Ideen aussuchen, sondern dass die Idee ihren Weg zum Autor findet. Dies ist insofern bemerkenswert, als wir uns Künstler oft als handelnde und bestimmende Wesen vorstellen, die ihre Kunstwerke bewusst ins Leben rufen.

Auch Haruki Murakami beschreibt in seinem autobiografischen Werk What I'm Talking About When I Talk About Walking:

"Und plötzlich hatte ich die Idee - ganz unerwartet, selbst für mich -, einen Roman zu schreiben. [...] Etwas schwebte vom Himmel zu mir herab, und ich nahm es an."

Oasis-Frontmann Noel Gallagher hat sich in seiner gewohnt unbescheidenen Art ähnlich über den Schreibprozess des Hits Don't Look Back in Anger geäußert:

"Ich glaube, er kam von irgendwo anders her. Ich glaube, es war ein Song, der schon irgendwo da war, und wenn ich ihn nicht geschrieben hätte, dann hätte Bono ihn geschrieben. Weißt du, es ist wie bei diesen großartigen Songs, 'One' und 'Let It Be', und ja, ich habe mich da gerade mit Paul McCartney verglichen."

Ob es in der Kunst, wie in der Geometrie, eine Spannung zwischen perfekter Idee und unvollkommener Darstellung gibt, bleibt eine offene Frage.

Die Frage lässt mich (bezeichnenderweise) nicht los: Sind wir es, die entscheiden, worüber wir nachdenken, forschen, schreiben wollen? Oder werden wir vielmehr von Ideen gefunden?

Quellen:

Haruki Murakami - Wovon ich spreche, wenn ich über das Laufen spreche.

Haruki Murakami - Wovon ich spreche, wenn ich über das Laufen spreche.

https://www.goodreads.com/book/show/6850487-wovon-ich-rede-wenn-ich-vom-laufen-rede?ac=1&from_search=true&qid=00SRALGJz4&rank=1

Stephen King - Über das Schreiben

https://www.goodreads.com/book/show/10569.

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