Nr. 19 Age of Age of Average

14. April 2024 / Text. Jonas Stetter

Bilder. Bertha S

«[Er gab] zu, dass das Deutschland der Dichter und Denker vielleicht auch seine Berechtigung gehabt habe. "Aber es war doch nur eine Vorstufe, unsere geistigen Leistungen heute liegen auf dem Gebiet der Industrie und Technik. Der Erfolg beweist."»

-Heinrich Mann, Der Untertan

Alles sieht sich immer ähnlicher. Dieses Phänomen beschreibt Alex Murrell in seinem Essay The age of average. Über die letzten Jahrzehnte habe sich jede Ausdrucksform der Gesellschaft einem stereotypischen Ideal angeglichen hat. Statt einer vielfältigen Breite sei einem Standard Platz gemacht worden; zufriedenstellend, unaufdringlich und unaufregend.

So liesse sich diese kreative Konvergenz bei Filmposter (dass diese sich innerhalb eines Genres stark ähneln, ist bekannt), Filmen (bis 2000 war jeder vierte Blockbuster Teil einer Filmserie oder eines Franchises, heute sind es fast 100%) und der Fülle der Literatur (viele neue Bücher kopieren beispielsweise Wortwahl und Ton der Titel von vergangenen Bestsellern) beobachten. Aber auch Autos, Architektur und sogar die Innenausstattung von Airbnb-Wohnungen ähneln sich global immer mehr.

Die Argumentation ist bestechend: Wer schon in Übersee-Hostels Zeit verbracht hat, dürfte bemerkt haben, dass es einem schwer fallen kann, die Jugendherberge Kapstadts von derjenigen in Cusco zu unterscheiden. Die Einrichtung ist dieselbe, die Farben vergleichbar, die Sprache und Regeln universell, und auch die Menschen, welche man antrifft, sind häufig Teil einer ähnlichen sozialen Gruppe mit homogenen Ideen und Idealen.

Murrells Essay beginnt mit der Erwähnung des Kunstexperiments People’s Choice. Zwei russische Künstler befragten über 10'000 Leute in elf verschiedenen Ländern nach ihren Präferenzen (Farben, Formen, Technik, Motive, etc.) in gemalten Bildern. Aufgrund dieser Aussagen erstellten die zwei Künstler eine Anzahl Bilder, die laut Essay die Vielfalt globaler Geschmäcker darstellen sollte. Das Ergebnis: Die Bilder sind alle nahezu identisch.

Murrell behauptet, wir lebten nun in diesen einheitlich gemalten Welten, die nicht zu stören, nicht zu begeistern vermögen. Ich denke nicht, dass das völlig stimmt. Während die beschriebene Konvergenz beobachtbar stattfindet, ist die Welt auf andere Weise auch vielfältiger geworden. Noch nie wurden mehr Musik und Texte unabhängig produziert als heute. Unter anderem durch die neuen technologischen Möglichkeiten kommt man heutzutage mit Kunst in Kontakt, welche noch vor wenigen Jahren unerreichbar gewesen wäre. Vielleicht führt dieser Austausch paradoxerweise gleichzeitig zu mehr Konfrontation mit Neuem und mehr Homogenisierung.

Als Ursachen für die Konvergenz mutmasst Murrell, dass die Menschen schlicht Bekanntes mehr schätzen als Neues. Vielleicht könne es aber auch an der zunehmenden Globalisierung liegen.

Persönlich denke ich, dass es einiges mit einer organisatorisch-organisationalen Herangehensweise an kreativen Ausdruck zu tun hat. Der für seine Experimentierfreudigkeit bekannte Regisseur Steven Soderbergh kritisiert in Murrells Text am Hollywood-System kritisiert, dass die Filmproduktion zu sehr an den Resultaten von Testgruppen orientiert wird. Dies lässt sich in vielen Bereichen betrachten: Wo Kreativität nicht durch Regulierungen eingeschränkt wird, wie es beim Entwurf neuer Gebäude oder Fahrzeuge der Fall sein kann (was selbstverständlich nicht nur negativ ist), verlassen sich Entscheidungstragende auf die Kennzahlen, die ihnen zur Verfügung stehen. Diese sind im Falle von Filmen zwei Dinge: bisherige Erfolge und Testgruppen. Ersteres führt zum Content-Recycling, Letzteres zur Anpassung extremer Elemente – aber nicht zur Umsetzung einer künstlerischen Vision.

Gleichzeitig scheint diese Entwicklung auch einen fundamental kapitalistischen Charakter aufzuweisen. Ihr mögt, was wir kreiert haben? Dann geben wir euch mehr davon – mehr, bis ihr nicht mehr mögt.

 

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Quellen:

Heinrich Mann – Der Untertan

https://www.goodreads.com/book/show/1509432.Der_Untertan

 Alex Murrell – The age of average

https://www.alexmurrell.co.uk/articles/the-age-of-average

 Vitaly Komar und Alexander Melamid – People’s Choice

https://images.squarespace-cdn.com/content/v1/5843057debbd1a9265704e03/6583a3f8-6f24-4c67-9888-cc0bc9c2179f/montage.jpeg?format=1500w


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