Nr 20
Ein Königreicht für ein Marshmallow
28. April 2024 / Text. Jonas Stetter Bild. Bertha S
Um das Jahr 1162 wurde unweit von Ulaanbaatar ein Knabe namens Temüüdschin geboren. In seiner Hand hielt der Neugeborene ein Blutgerinnsel fest umschlossen – nach der Folklore ein Zeichen, dass er dazu bestimmt war, ein grosser Anführer zu werden.
Prophezeiungen haben etwas unheimlich Mächtiges an sich. Der Pygmalion-Effekt wurde in den 1960er Jahren entdeckt. In einem Experiment erklärten Wissenschaftler Lehrpersonen, dass gewisse Kinder in ihren Klassen auf der Basis eines IQ-Tests besonders viel Potenzial zeigten. Alle Anzeichen sprächen dafür, dass sich die Lernergebnisse dieser Lernenden im folgenden Schuljahr verbessern müssten. Dies traf tatsächlich ein. Allerdings waren die Kinder völlig zufällig ausgewählt worden. Der Pygmalion-Effekt beschreibt also, dass Lehrpersonen Lernende, die sie als besonders vielversprechend einschätzen, bewusst oder unbewusst stärker fördern. Mutmassliches Potenzial entpuppt sich als real – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Während der Pygmalion-Effekt einem die faszinierend-furchteinflössende Macht vom Einfluss anderer Personen auf unser Schicksal vor Augen führt, beschreibt ein anderes Experiment die scheinbare Unwandelbarkeit desselben. Der Marshmallow-Test wurde in den 1970er Jahren durchgeführt. Kinder, welche darauf verzichten konnten, ein Marshmallow innerhalb einiger Minuten zu verzehren, wurde ein weiteres Marshmallow gegeben. Die sich als widerstandsfähiger bewiesenen Teilnehmenden, zeichneten sich im späteren Leben als erfolgreicher aus.
Der Test wirft an und für sich bereits viele Fragen auf: Was wird gemessen? Frustrationstoleranz? Was bedeutet es für unser System, wenn Personen, die Frustration ertragen können, sich bewähren? Wieviel Potenzial lassen wir uns entgehen? Am Ende hat das Kind zwei Marshmallows statt einem: In welchem Wertesystem ist das per se etwas Gutes?
Als Temüüdschin 1227 starb, war er der Anführer eines Imperiums, das doppelt so gross war wie das römische Reich auf dessen Höhepunkt. Viel Gewalt und Leid, aber auch frühe Ideen des Sozialstaats und der Meritokratie sowie das Etablieren einer Handelsroute von Europa bis China waren Folgen seiner Herrschaft. Hätte Genghis Khan bei seiner Geburt kein Blutgerinnsel in seinem Fäustchen gehalten, wie würde die Welt heute aussehen?
Ohne Titel. Öl auf Leinwand
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