Nr.3 Über das Zuhören

8. Mai 2022 / Text. Jonas Stetter / Bilder. Bertha

Ich rede viel, ich rede gern.

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich, während mein Gegenüber spricht, nur auf die Pause warte, bis ich selbst zum Zug komme. Wie ein Meditierender sein Mantra oder eine Vortragende ihren vorbereiteten Präsentationstext bete ich innerlich meine eigene Meinung immer wieder herunter, aus Angst, ich könnte durch zu viel Aufmerksamkeit auf den Ausführungen der anderen Person meinen eigenen Sichtpunkt aus dem Blick verlieren.

Zwei literarische Texte haben mir kürzlich wieder die Bedeutung des Zuhörens gezeigt.

«Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. […] Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.»

«Vasudeva hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Alles nahm er lauschend in sich auf […] Dies war unter des Fährmanns Tugenden eine der größten: er verstand wie wenige das Zuhören. Ohne dass er ein Wort gesprochen hätte, empfand der Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel daneben stellte, nur zuhörte. Siddhartha empfand, welches Glück es ist, einem solchen Zuhörer sich zu bekennen, in sein Herz das eigene Leben zu versenken, das eigene Suchen, das eigene Leiden.»

Ich rede viel, ich rede gern.

Rat mag manchmal helfen, aber Zuhören ist oft bitterer nötig. So, wie nachzugeben mächtiger sein kann als Druck auszuüben. Wie Veränderungen in kleinen Schritten häufig nachhaltiger wirken als abrupte. Wie man nur dem helfen kann, der sich helfen lassen möchte.

Aber diese Vergleiche stimmen allesamt nicht ganz, nicht wirklich. Denn nirgends ist es wie beim Zuhören so, dass man scheinbar nichts tuend, durch blosse Präsenz eine grosse Wirkung erzielen kann. Aufmerksamkeit zu schenken wirkt heilend. Passender und schöner als in den beiden obenstehenden Textstellen kann ich es nicht ausdrücken. Und wie im Film Lady Bird erklärt wird, sind Aufmerksamkeit und Liebe wohl dasselbe.

Quellen:

Michael Ende – Momo https://www.goodreads.com/book/show/68811.Momo

Hermann Hesse – Siddharta https://www.goodreads.com/book/show/52036.Siddhartha

Greta Gerwig – Lady Bird

https://www.imdb.com/title/tt4925292/

die Genialität des Unbelebten. Collage

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